Ich bin einer der Menschen, denen das Leben nicht zufliegt. Alltag bedeutet für mich auch jenseits von Corona schon Anstrengung: Mich selbst zu motivieren, Termine wahrzunehmen, für mich und andere zuverlässig sein, kochen, Haushalt machen, einkaufen, Sport treiben… Das sind für mich alles Aufgaben und all das bedeutet Anstrengung. Manches davon ist schön, und trotzdem anstrengend.
Mich mit Freunden zu treffen (sofern vorhanden) ist anstrengend. Gut und wichtig und wertvoll, aber anstrengend. Mein Kopf ist hyperaktiv und gleichzeitig sind meine Kräfte begrenzt. Permanent. Und dann ist da noch so ein Studium, das bewältigt werden möchte. Studieren mit psychischer Erkrankung fliegt mir natürlich noch weniger zu als der Rest meines Lebens, aber ich hatte für mich einen Rhythmus gefunden, der mal mehr und mal weniger gut funktioniert hat. Viele Vorlesungen habe ich sowieso von zu Hause gemacht, weil der Weg zur Uni und die vielen fremden Menschen vor Ort ein zu großer Kraftaufwand waren. Aber ich habe mir weise überlegt, welche „Wohlfühlkurse“, (also Kurse, an denen ich Freude habe, die mich fordern und mich zwingen zur Uni zu kommen, mich aber nicht überlasten) ich besuche. Das war ein fragiles Konstrukt, aber es war ein Konstrukt, das mir wahnsinnig viel bedeutet hat. Ich konnte zu einem gewissen Grad am Leben teilnehmen. Mir ging es trotzdem selten gut, im Sinne von: GUT. Aber ich habe Dinge geschafft und konnte stolz auf mich sein, wenn ich eine Woche gemeistert habe, ohne etwas ausfallen zu lassen. Wenn ich Stabilität in meinem Handeln erkennen konnte. Die kleinen Erfolge des Alltags und die damit verbundene Hoffnung auf ein zufriedenes Leben – irgendwann in der Zukunft – waren mein Motor.
Naja, bis dann alles schallend zusammengebrochen ist. Eigentlich bin ich sehr gut davon gekommen was Corona betrifft: Ich habe eine Wohnung, einen Freund der diese mit mir teilt, ich könnte den ganzen Tag zuhause bleiben wenn ich wollte und müsste mich keinem Risiko aussetzen. Ich habe keine Kinder, die betreut werden möchten und keine todkranken Angehörigen. Wir leben alle und mit BaFög bin ich vorläufig abgesichert. Also was für Probleme sollte ich haben, die sich nicht nach Luxus-Problemen und meckern auf hohem Niveau anhören? Da ist eben meine Psyche. Die, die eh schon wahnsinnig sensibel auf alles reagiert, die schon viel mitgemacht hat und die sich wünscht, Ruhe und Zuversicht zu bekommen. Eine Psyche, die verwundet und lange nicht geheilt ist. Eine, die mit halber Kraft permanent versucht den Lebensanforderungen halbwegs gerecht zu werden und nun noch mehr Gegenwind bekommt, wodurch noch mehr Kraft verloren geht. Das sind alles Dinge die innerlich stattfinden. Nichts davon ist „real“ wenn man so will. Nichts ist verankert in der physischen Welt. Letztendlich interessiert es niemanden, weil es nur mich betrifft. „Studierende müssen ja nur zu Hause bleiben, mehr nicht. Die haben es ja noch gut.“ Aber ganz ehrlich? Mir geht’s nicht besonders gut. Die ersten Wochen waren vielleicht noch okay, irreal, endlich mal durchatmen und so richtig die Wohnung ausmisten. Aber dann habe ich jedes Loch mitgenommen, das sich auf meinem Weg aufgetan hat. Ich bin für Krisen nicht besonders geeignet.
„Struktur im Alltag ist wichtig. Setzten Sie sich feste Termine, auch für Spaziergänge und schöne Dinge.“ – ja klar, muss man aber auch können. Es ist ja nicht so, dass mir das in normalen Zeiten leichtfiele. Das ist eine der größten Herausforderungen des gesamten Studiums für mich. Und jetzt, in einer Krisensituation soll das plötzlich die ultimative Lösung sein, die sich einfach so umsetzten lässt?
„Machen Sie sich nicht so viel Stress, es versuchen alle kulant zu reagieren.“ – ja, das kann man nur hoffen. Interessiert es das BaFög-Amt wirklich, ob ich eine depressive Phase hatte oder nicht? Ich MUSS bestimmte Dinge dieses Semester schaffen, das ist die Deadline. Können die Klausuren überhaupt stattfinden? Keine Ahnung. Also, man kann natürlich versuchen sich da keinen Stress zu machen, aber ignorieren kann man diese existenzielle Unsicherheit ja auch nicht. Ganz zu Schweigen von der finanziellen Entlastung, die mein Nebenjob mir gebracht hat, der nun wegfällt. (Endlich mal reale Probleme, die Menschen verstehen! Immerhin.)
Als mir das alles so bewusstwurde, was jetzt gerade doch längerfristig nicht mehr funktionieren wird für mich, gab es Tage, an denen ich im 10-Minuten-Takt heulen musste. Ich bin aufgewacht und wollte nur den Tag ohne größeren Schaden überstehen. Die mühevolle Arbeit der letzten Jahre mich selbst zu stabilisieren schien völlig verloren. Alle Hoffnung auf Besserung schien verloren. Meine Zukunft fühlte sich leer und schwarz an. Ich habe meine Nachbarn gehasst, weil sie so laut waren und habe im nächsten Moment geweint, weil ich mich so nach Ruhe gesehnt habe. Mir war es zu viel, das Haus zu verlassen und gleichzeitig habe ich mich eingesperrt gefühlt. Ich hatte Angst an einen psychischen Punkt zu kommen, den ich dachte schon vor langer Zeit überwunden zu haben. Ich hatte Angst vor meinen eigenen Gedanken und war geschockt zu merken, wie schnell mein Kopf alte Denkmuster und die gut bekannte Hoffnungslosigkeit reaktivieren konnte.
Während andere Menschen Skype-Spieleabende und Online-Dates ausgerichtet haben, saß ich zu Hause und habe mir selbst vorgeworfen, dass ich es scheinbar nicht hinkriege, Freunde zu finden. Das macht Sinn: Alles ist für mich anstrengend, da kriege ich es meist nicht noch groß hin zu socializen – DER Kraftaufwand schlechthin. Aber das rächte sich nun, weil ohne socializen natürlich auch keine sozialen Kontakte entstehen. Das muss doch an mir liegen! Vielleicht bin ich einfach nicht liebenswert? Zu schräg? Zu krank? Natürlich ist das Quatsch, aber wenn man schon in einer Schleife des Elends ist, dann ist es so wahnsinnig leicht den Rest Selbstwert zu verlieren der vorher vielleicht noch da war.
Für mich war es also jetzt über einen Monat extrem schwer, mich selbst wiederzufinden. Mich in der Situation zu verorten. Ich musste in aller erster Linie versuchen den freien Fall und das schwarze Loch zu verlassen. Uni? Das war mein geringstes Problem. Gleichzeitig aber vielleicht auch Teil der Lösung: Mein momentanes Highlight sind Zoom-Vorlesungen. Das sind die einzig festen Termine, die ich so habe. Ein Anker in der Woche. Immerhin.
Zweitens: Sport. Ich Jogge möglichst regelmäßig und habe mir die DVD von “Charlotte Crosby – “3 Minute Belly Blitz“ gekauft. Das Cover gehört verboten und die Werbestrategie zielt auf Gewichtsverlust ab, aber das kann ich gut ausblenden. Es ist natürlich nicht Sinn der Sache, sich noch zusätzlich mit dem eigenen Körper schlecht zu fühlen oder die fehlende Fitness (die man auf jeden Fall hat wenn man die Work-Outs zum ersten Mal macht) zu bemängeln. Es ist ein 36-minütiges Work-Out, in dem ich im Wohnzimmer ins Schwitzen komme. Es wird gekickboxed, getreten und geschlagen und Springseil gesprungen (ohne echtes Springseil) und gleichzeitig frage ich mich manchmal, was ich da eigentlich mache. Die Absurdität des Work-Outs bringt mich regelmäßig zum Schmunzeln, und wenn ich Übungen wie „Ice-Skater“ oder „Ski-Jumps“ mache, dann fühlt sich das so lächerlich an, dass es ein bisschen erleichternd ist. Meine Freundin hat mir die DVD empfohlen, daher habe ich nicht das Gefühl, das ganz alleine zu machen. Der Muskelkater hilft mir auch dabei, mich selbst zu spüren.
Drittens: Postcrossing. Wer noch nicht davon gehört hat: Da schickt man sich weltweit Postkarten zu. Und da die ganze Welt gerade betroffen ist, finde ich das einen wunderschönen Austausch und einen guten Weg, um den Kontakt zur Welt nicht zu verlieren. Bei mir hat sich daraus sogar eine Brieffreundschaft nach Frankreich entwickelt. Eines Tages im März, mitten im Lockdown, kam eine Karte aus Frankreich, die mich tief berührte. Auf Anhieb fühlten wir uns verbunden und erhielten die Freundschaft aufrecht. Diese Entwicklung kam so unerwartet und ist genau deshalb das Beste, das mir in dieser Krise bisher passiert ist.
Viertens: Ablenkung. Je schlechter es mir geht, desto mehr Ablenkung brauche ich. Backen, Häkeln, Sticken, Herzkino im ZDF, Scrabbeln, Aufräumen … Was sich so finden lässt. Und auch dabei kann es passieren, dass ich plötzlich anfange zu weinen, aber es ermöglicht mir Schadensbegrenzung zu betreiben. Wenn ich nach Rezept koche, dann muss ich mich aufs Rezept konzentrieren und kann nicht so viel Mist denken. Je länger ich im Negativdenken bleibe, desto mehr kommen mir die Gedanken nämlich als Wahrheiten vor. An Uni, lernen, lesen ist in diesen Momenten überhaupt nicht zu denken. Da versuche ich dann auch möglichst bewusst mir keinen zusätzlichen Druck zu machen.
Fünftens: Professionelle Hilfe. Natürlich habe ich auch Gebrauch meiner schon etablierten professionellen Netzwerke gemacht. Meine Psychologin und meine Psychiaterin machen ihren Job ja zum Glück weiter.
So muss jede/r für sich kleine Anker finden, aber es ist und bleibt nicht einfach. Die Hoffnungslosigkeit ist trotzdem oft da. Auch die Antriebslosigkeit. Auch die völlig fehlende Motivation. Auch die Tage, an denen ich kaum aus dem Bett komme und dann den Rest des Tages fernsehe, weil mein Kopf sich anfühlt wie Schleim. Und über allem thront natürlich das Gefühl, dass es eigentlich niemanden interessiert und ich mich vielleicht einfach mehr anstrengen sollte. Corona verstärkt für mich alles, das eh schon nicht rund lief. An den Wiederaufbauprozess nach Corona, wenn alle davon ausgehen, dass man direkt wieder zu 100% funktioniert, will ich erst gar nicht denken. Damit befasse ich mich später.
Ein letzter Tipp: Auch das Schreiben dieses Posts hat mir geholfen, mich besser zu verorten. Das Reflektieren hat meinen Gedanken wieder mehr Legitimität gegeben. Das hört sich alles gar nicht so irre an wie es sich in meinem Kopf anfühlt. Falls ihr also einen Gastbeitrag schreiben wollt, mailt uns gerne oder schreibt ihn einfach für euch selbst, ohne dass ihn wer anders liest. Bitte passt auf euch auf und sucht euch Hilfe, BEVOR es richtig schlimm wird!