#pridemonth
Ich denke, jeder kommt mal an den Punkt, an dem er (fast) alles hinterfragt, sein Leben, seine Entscheidungen, seine Fähigkeiten (etwas, worüber meiner Meinung nach viel zu wenig offen gesprochen wird!). Wie soll meine Zukunft später mal aussehen, ist das Studium/die Ausbildung wirklich das Richtige für mich, kriege ich das alles hin mit dem Erwachsensein…? All diese und ähnliche Fragen, Zweifel und vielleicht schon beinahe Angst habe ich auch, meistens immer phasenweise und oft, wenn ich denke, bei anderen klappt es scheinbar bestens.
Mir geistert aber manchmal noch eine weitere Frage im Kopf herum, die sich vielleicht nicht jeder stellt/stellen muss: wer bin ich? Oder nein, richtiger: was bin ich? Diese Frage hat nichts mit einer Existenzkrise zu tun (naja, vielleicht schon ein bisschen, um ehrlich zu sein), sondern bezieht sich vielmehr auf meine sexuelle Orientierung.
Ich bin in einer heteronormativen Umgebung aufgewachsen, d.h. ich habe persönlich nichts anderes gekannt als heterosexuelle Beziehungen (bitte nicht als Ignoranz oder Intoleranz interpretieren!). Es ist daher wenig verwunderlich, dass ich davon ausging, dass mein Leben bzw. meine Beziehungen irgendwann auch mal so sind, sprich mit einem Mann. Jetzt, als junge Erwachsene, weiß ich, dass hetero eben nicht die Norm ist und dass es ein ganzes Spektrum gibt, was sexuelle Orientierung angeht. Und damit fingen meine „Probleme“ an…
Ich bin inzwischen fast Mitte 20, war noch nie in einer Beziehung oder gar verliebt und habe eigentlich auch null Interesse daran, ganz abgesehen davon, dass ich Liebe und Beziehungen irgendwie auch gar nicht richtig verstehe. Zuerst dachte ich, es läge vielleicht an meinen Depressionen oder an dem traumatischen Todesfall in meiner Kindheit, also dass Beziehungen und Liebe und der ganze Kram einfach in den Hintergrund gerückt sind. Zum Teil könnte das auch gut stimmen, aber was, wenn da noch mehr hinter steckt? War ich vielleicht gar nicht hetero, sondern ‚was anderes‘? Aber wenn ja, was war ich denn dann? Den Gedanke, zum Beispiel lesbisch zu sein, empfand ich nicht als abstoßend, fühlte sich aber als Antwort auch nicht richtig an. Ich wusste also ab dem Punkt nicht so recht weiter. Und dann waren da zwei kleine Stimmen in meinem Kopf…
Eine Stimme sagte, dass es doch eigentlich auch egal sei, was ich nun bin. Niemand in meinem Leben fragte oder bedrängte mich, ob ich nun einen Freund hätte und wenn nicht, wann. Ich musste mich also glücklicherweise nie rechtfertigen oder verteidigen, was das anging. Generell war es auch nie ein Thema, weder in meiner Familie noch mit meinen Freunden. Wäre es nicht außerdem irgendwie komisch, praktisch aus dem Nichts damit anzufangen und sich irgendwie zu ‚outen‘? So gesehen war es also nicht wirklich wichtig, mich festzulegen und mein Label zu finden. Und genau da setzte dann die andere Stimme ein: nein, praktisch gesehen, war es wirklich irrelevant. Aber vielleicht würde es mir persönlich helfen, mein Label nicht nur zu wissen, sondern auch festzulegen. Genau so, wie die Diagnose Depressionen mir geholfen hat, mich selbst besser zu verstehen und in gewisser Weise auch zu akzeptieren, genau so könnte es dann doch auch mit einer eindeutigen sexuellen Orientierung funktionieren. Der Gedanke liegt wenigstens nahe. Außerdem würde es vielleicht auch meinem Selbstvertrauen helfen. Sollte ich mich also vielleicht mal an lokale Beratungsstellen wenden?
So geriet ich in ein Gedankenkarussell, in dem sich zwei Phasen immer abwechselten: ‚ich denke nicht über das Thema nach, weil es eigentlich nicht wichtig ist‘ und ‚ich will wissen, was ich bin und mein Label haben‘. Falls ihr euch fragen solltet, warum ich in den ‚ich will’s wissen‘-Phasen nie zu einer Beratungsstelle oder einem Queer-Treff gegangen bin… ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Vielleicht, weil das dann schon der erste Schritt gewesen wäre, es real zu machen; bis dahin blieb es nur eine Idee in meinem Kopf, die ich für mich behalten konnte. Bis vor kurzem war ich wieder in einer Phase, in der ich nicht darüber nachgedacht habe. Doch dann kam Juni, und mit dem Juni der Pride Month, und damit war mein Problem wieder hochaktuell.
Ich stand natürlich inzwischen nicht mehr ganz am Nullpunkt, ich hatte schon so gut recherchiert, wie es das Internet zuließ. Bei meinen Recherchen stieß ich dann auf den Begriff „asexuell“, also dass jemand keine oder nur wenig sexuelle Anziehung zu anderen Menschen fühlt. Ja, dachte ich, in gewisser Weise trifft das schon zu für mich… aber da fehlte halt noch was, denn ich hatte ja auch kein Bedürfnis nach einer Beziehung. Als ich weitersuchte, kam ich dann auch auf den Begriff „aromantisch“: jemand, der keine romantische Anziehung spürt bzw. auch kein Interesse an romantischen Beziehungen hat. Wenn jemand sowohl aromatisch als auch asexuell ist, nennt man das abgekürzt auch Aro-Ace. Und da war es endlich! Ein Begriff, in dem ich mich wiederfand, bei dem ich sagen konnte: ja, das bin ich!
So wie ich das jetzt schreibe, klingt das recht unkompliziert. Aber das ist es leider nicht. Auch wenn ich das Gefühl habe – und eigentlich auch ziemlich sicher bin –, dass ich mein Label gefunden habe, fällt es mir schwer, damit umzugehen. Klar ist es schön, es jetzt irgendwie zu wissen, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht so recht, was ich jetzt mit dem Wissen anfangen soll. Soll ich meine sexuelle/romantische Orientierung jetzt ‚ernst‘ nehmen und mich mehr damit beschäftigen? Soll ich mich bei Familie und Freunden outen? Oder soll ich es einfach dabei belassen, dass ich ein Label habe und so wie immer mit meinem Leben weitermachen? Ich denke jetzt schon eine Weile darüber nach, weiß aber immer noch nicht so recht weiter. Es fühlt sich auch irgendwie komisch an, darüber zu schreiben, auch wenn ich noch nicht mal sicher bin, ob ich diesen Text wirklich posten will. Dadurch, dass ich es jetzt das erste Mal in Worte gefasst habe, wird es auf einmal gleich realer und es ist nicht mehr nur in meinem Kopf. Vielleicht habe ich einfach Angst, vielleicht fehlt mir einfach noch das Selbstvertrauen das Thema betreffend. Vielleicht muss ich aber auch einfach mal ins kalte Wasser springen. Wer weiß, vielleicht ist das Wasser doch nicht ganz so kalt, wie ich befürchte.
Bei meinen generellen Recherchen hat mir das Queer Lexikon sehr geholfen.
Wenn es um Aromantik geht, kann ich diesen Blogbeitrag sehr empfehlen!