Noten & Notendruck

Alle kennen sie, kaum jemand mag sie: Noten. Ob in der Schule, im Studium, in der Ausbildung oder im späteren Berufsleben. Zu jeder Zeit des Lebens wird man auf irgendeine Weise bewertet. Noten – also einfache Ziffern – scheinen da ein probates, da einfaches und vergleichbares Mittel zu sein. Wir haben diesen einfachen Ziffern eine Bedeutung beigemessen – 1 „sehr gut“, 4 „ausreichend“.  

Doch was passiert in unseren Köpfen?  

In meinem Kopf bedeutet eine 4 eben nicht das so wohlwollend klingende „ausreichend“. In meinem Kopf bedeutet eine 4, dass ich versagt habe, dass ich gerade so an einem „Durchgefallen, setzen sechs!“ vorbeigeschrammt bin. Und auch bei Bewerbungen bedeutet eine 4 nicht, dass meine Leistungen ausreichend waren, um für meinen Traumberuf geeignet zu sein. Es bedeutet: „Du bist faul, du bist dumm, du wirst niemals die Anforderungen erfüllen, die wir an dich stellen. Es tut mir leid, ich habe heute leider keinen Job für dich!“ Noch schlimmer wird es für mich, wenn auch die Noten in Fächern, die für meinen Traumberuf nicht relevant sind, mit einbezogen werden. Ich werde niemals etwas mit vielen Zahlen machen und das nicht, weil ich es – laut meiner Noten – nicht kann, sondern weil ich einfach kein Interesse daran habe. Aber selbst wenn: Was sagen Noten aus der Schule dann über mich und meine Fähigkeiten aus? Haben sie überhaupt eine Aussagekraft? Und wie ist das mit der viel gerühmten Vergleichbarkeit? 

Aussagekraft von Noten: 

Was sagt eine gute Note in einer Klausur aus? Sagt sie aus, dass man das Thema richtig gut verstanden hat und jederzeit wieder auf das Wissen zurückgreifen kann? Ich würde sagen: Ja, aber mit Einschränkungen. Für mich sagt es aus, dass man für die Klausur (vielleicht) viel gelernt hat, dass man verstanden hat, was die Lehrenden von einem erwarten, dass man einen guten Tag hatte und nicht mit anderen Dingen beschäftigt war, dass man verstanden hat, wie man in einem institutionellen Rahmen gute „Leistungen“ erbringt. Sie sagen für mich aber nichts über meine grundsätzlichen Fähigkeiten aus. Sie sagen nichts darüber aus, wie ich als Mensch bin. Sie sagen auch nichts darüber aus, ob ich für einen bestimmten Beruf geeignet bin. Sie geben höchstens einen Einblick in meine Leistungen zu einem bestimmten Zeitpunkt und können nichts darüber aussagen, ob ich an dem Tag vielleicht ganz andere Sorgen hatte. Sie können niemandem sagen, dass ich zu ebenjenem Zeitpunkt vielleicht Stress zuhause hatte, dass ich unter einem starken Druck stand, dass ich immense Prüfungsangst habe und dadurch einfach nicht die Leistung erbringen konnte, die von mir erwartet wurde. Die Noten spiegeln nicht wider, wer ich bin, wer ich war und wer ich sein kann. 

Noten werden von Menschen verteilt. Eine Lehrperson liest die Klausur, die Hausarbeit, nimmt die mündliche Prüfung ab und vergleicht das Geschriebene und Gesagte mit ihrem persönlichen Wertungsraster und Erwartungshorizont. Entweder man hat Glück und entspricht diesem Bewertungsschema oder man hat Pech und fällt durch. Und auch wenn Lehrende noch so sehr versuchen, wertfreie Noten zu geben, ist das kaum möglich. Lehrpersonen sind keine Computer, die aufgrund von Algorithmen bewerten. Sie sind Menschen, die auch, wenn vielleicht unbewusst, Sympathie und Antipathie mit einfließen lassen, die auch ihre eigenen Leben und Probleme und schlechte Tage haben. All das fließt in die Noten und Bewertungen mit ein. Und egal, wie fair und transparent ein Erwartungshorizont sein mag, am Ende des Tages bewerten uns Menschen und entscheiden über Wohl und Wehe und über unsere Zukunft. 

Es gibt zwar Bemühungen in den Schulen, Klausuren und andere Leistungen auch mithilfe eines Erwartungshorizontes transparenter und durch ein Punkteraster die Notenermittlung nachvollziehbarer zu machen und den Schüler:innen ein ausführliches Feedback zu geben. Dennoch ist das erste, was Schüler:innen tun, auf die Note zu schauen. Der Rest ist für die Schüler:innen meistens zweitrangig. Und auch ihnen ist bereits in jungen Jahren bewusst, wie sich Noten auf ihre Zukunft auswirken. Einige können gut mit dem Druck und der permanenten Erwartungshaltung umgehen, andere zerbrechen daran. Sie führen ihr ganzes Dasein, ihr ganzes Können, auf Noten zurück, die rein gar nichts, über diese Dinge aussagen können. 

Ja, ich verstehe, dass man Leistungen irgendwie bewerten muss. Ja, ich verstehe, warum bestimmte Studiengänge einen NC haben. Ich verstehe, dass einfach nicht genügend Studienplätze zur Verfügung stehen und man irgendwie die Zahl der Studierenden reduzieren muss. Nein, ich verstehe nicht, warum der Arzt, der mich behandelt, einen besonders guten Abi-Schnitt braucht. Was interessiert es mich, ob er besonders gut im Interpretieren von Gedichten war. Ich möchte mit ihm nicht über die Interpretation von Christan Morgensterns „Fisches Nachtgesang“ debattieren, sondern eine fachlich kompetente und empathische Behandlung erhalten. 

Vergleichbarkeit von Noten: 

Wenn man, wie ich bereits die Aussagekraft von Noten infrage stellt, wie kann man dann noch von einer Vergleichbarkeit der Leistungen ausgehen. Ich stelle die These auf, dass Noten definitiv vergleichbar sind. Allerdings nicht in Bezug auf die Kompetenz und Leistung in irgendeinem Schulfach oder Eignung für irgendeinen Beruf, sondern sie sorgen für einen Vergleich und einen Konkurrenzkampf unter Schüler:innen und Studierenden. Es hat Gründe, warum Gerüchte im Umlauf sind, dass in bestimmten Studienfächern Bücher versteckt werden, damit Kommiliton:innen die Möglichkeiten zu lernen genommen werden. Noten, insbesondere der Druck, gute Noten zu bekommen, um sich so seinen Traumberuf zu sichern, können – so meine These – uns unmenschlich machen. Wer noch nie insgeheim gedacht hat, dass eine andere Person die Note in der und der Klausur nicht verdient hat oder man neidisch auf die andere Person war, der werfe den ersten Stein. Wir verlernen durch diesen Notendruck und den Konkurrenzkampf aus dem Blick, dass Noten nichts über uns persönlich aussagen. Und anstatt uns mit anderen zu freuen, weil sie hart für diese Note und ein Bestehen in einem, auf „vergleichbare“ Leistung getrimmten, System, sind wir neidisch. Anstatt uns mit anderen darüber zu ärgern, dass Noten eigentlich kein aussagekräftiges Mittel der Bewertung sind, versuchen wir alles Mögliche, um „die Besten“ zu sein. 

Bewertungsangst: 

Doch was macht dieser Druck mit uns? Es gibt Menschen – zu denen ich leider nicht zähle und die ich darum beneide, dass sie so sind, wie sie sind – die sich in diesem System der Bewertung gut zurechtfinden, die sich selbst nicht so unter Druck setzen, die sich nicht von der permanenten Erwartungshaltung von anderen und von sich selbst beeinflussen lassen. Und dann gibt es Menschen wie mich: Menschen, die sich andauernd Gedanken machen, ob sie gut genug sind. Die ihre eigenen Leistungen hinterfragen und Angst davor haben, von anderen bewertet zu werden. Die vergessen, dass eine Note wenig über einen selbst und die eigenen Fähigkeiten aussagt. Menschen, die Angst haben, dass andere Menschen ihre Leistungen mit einer eigentlich nichtssagenden Zahl oder Bepunktung bewerten. Wir verkriechen uns, wir schieben Aufgaben hinaus, wir bauen eine für uns selbst kaum zu überwindende Mauer aus Perfektionismus auf und wissen insgeheim, dass wir daran scheitern werden. Wir geben Hausarbeiten nicht ab, aus Sorge, dass wir einfach nicht gut genug sind. 

Mögliche Lösungen: 

Um ehrlich zu sein, ich habe keine Lösung. Ich weiß, dass man irgendwie die Leistungen bewerten muss. Ich weiß auch, dass es irgendein vergleichbares und einheitliches System geben muss und das schriftliches Feedback allein nicht ausreicht. Ich würde mir nur wünschen, dass wir als Gesellschaft lernen, dass Noten allein nicht ausschlaggebend sind. Ein Arzt kann in der Schule schlecht gewesen sein und auch im Studium nicht die besten Noten erbracht haben, dennoch kann er gleichzeitig fachlich unglaublich kompetent und empathisch sein. Die nicht bewerteten und bewertbaren Leistungen und Fähigkeiten sind das, was am Ende zählen. 

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