“Im Ausland war es scheiße!”

Ein Thema, das mir schon länger unter den Nägeln brennt, ist der Erwartungsdruck, der mit Auslandsaufenthalten einhergeht. Über Schüleraustausche liest man eventuell noch mehr Kritik, da dort oft die Gasteltern als Fehlerverursacher benannt werden können. Bei eigenständigen Abenteuern aber als Erwachsene hat das Erlebnis das beste des Lebens zu werden. Man ist ja selbst für das Ergebnis verantwortlich.

Damit würde ich gerne aufräumen. Ich schreibe euch in diesem Moment von meiner Fensterbank in Norwegen, mit Blick auf den Fjord in die eine Richtung und Blick auf die Berge in die andere. Viele denken sich bestimmt gerade: „Wow, wie geil. Das würde ich auch gerne. Alles ist besser als zuhause im Homeoffice zu sitzen.“ Ja, das dachte ich mir tatsächlich auch, aber angefangen zu planen habe ich natürlich schon vor Corona.

Ich sitze also hier umgeben von atemberaubender Natur, wir machen Lagerfeuer in den Bergen, ich konnte reisen und unter anderem die Nordlichter sehen, …. undundund. Ich bin seit Januar hier und hatte schon viele wundervolle, beeindruckende und wertvolle Momente.

Ich könnte hier nun enden und den Neid auf mich ziehen der meine Reise als lohnend definieren würde. Von außen betrachtet. Zwar sind meine Schilderungen zu 100% wahr, aber sie erzählen bei weitem nicht die ganze Geschichte. Die andere Seite? Die beinhaltet, dass ich seit vielen Jahren psychisch erkrankt bin und jedes Ausland der Welt dies nicht ausradieren wird. Die beinhaltet auch, dass ich viel Angst, Anspannung, Überforderung und Einsamkeit verspüre, dass ich mich meistens unsicher und eher schwach fühle und dass ich nicht ansatzweise so (körperlich und psychisch) leistungsfähig bin wie (scheinbar) alle Menschen um mich herum. Die beinhaltet das dauerhafte Bewusstsein beschränkter zu sein als meine Umwelt und viel Acht auf mich selbst geben zu müssen, indem ich mir viel Ruhezeit allein gönne. Nicht gerade das, was (gefühlt) alle anderen Erasmus-Student*innen erleben.

Das Dilemma mit Auslandsaufenthalten ist, dass häufig nur diejenigen ins Ausland gehen, die gesund, abenteuerlustig und flexibel sind. Eine Auslese findet schon statt, bevor man überhaupt im Ausland ankommt. Anpassungsfähigkeit und Leistungsfähigkeit sind dringend notwendig, ansonsten kann man gleich zuhause bleiben. Wirklich? Ich persönlich finde, das ist nur bedingt wahr.

Ich kann meine Meinung aufgrund von zwei sehr unterschiedlichen Auslandserfahrungen bilden: Das erste Mal war ich mit 19 Jahren als Au-Pair für 11 Monate unterwegs. 11 Monate, weil ich dann aufgrund meiner bis dahin noch viel zu wenig behandelten Erkrankung abbrechen musste. Was ein Scheitern! In dem Moment hat es mich innerlich zerschmettert aufgeben zu müssen, aber im Nachhinein funktionierte mein Auslandsaufenthalt von Anfang an mehr als Flucht als als aktives Umgestalten meines Lebens. Ich bin mir nicht sicher ob ich das vorher hätte wissen oder mir eingestehen können, aber immerhin weiß ich es heute. Mein erstes „Auslandsjahr“ war mein schlimmstes aber auch aufregendstes Erlebnis in meinem damaligen bisherigen Leben. Es war lehrreich und neu und wertvoll, aber von mir falsch angegangen. Lektion gelernt!

Nun studiere ich und habe die einmalige Chance weitestgehend umsonst, mit viel bürokratischer Unterstützung und mit verhältnismäßig wenig Druck noch einmal im Ausland zu leben. Dies war immer mein Traum und meine Sturheit hat mir ein wenig dabei geholfen zu sagen, dass ich nicht einsehe mich durch eine psychische Erkrankung so einschränken zu lassen. Würde ich aus Angst und den durchaus negativen Erfahrungen in meinem ersten Auslandsjahr mir die Chance auf neue, bessere, und selbstbestimmte Erfahrungen verbauen, dann werde ich ja sicherlich auch nicht gesund. So mein Gedankenfluss…

Ich nahm also ungelogen all meinen Mut zusammen und habe mich beworben. Aber auch nicht einfach so: Ich habe vorher mit mir nahen Menschen gesprochen, mit einer Dozentin, von der ich wusste, dass sie ebenfalls Erfahrungen im Bereich Mental Illness hat, mit dem International Office und mit meiner Psychologin. Und der hilfreichste Tipp für mich war: „Fang erstmal an. Du kannst nach jedem Schritt des Bewerbungsprozesses aufhören und dich umentscheiden.“

Ich bin also Schritt für Schritt dem Bewerbungsprozess gefolgt und eine meiner ersten Fragen im Infoseminar beispielsweise war: Bis wann kann ich mich entscheiden nicht zu gehen und was passiert, wenn ich abbreche? Meine Erfahrung in dem Prozess war, dass ich mit jedem Schritt mehr darüber nachgedacht habe, wie es wohl sein würde in Norwegen, und mir dementsprechend auch besser die positiven Aspekte eines solchen Abenteuers ausmalen konnte. Zwar hatten alle rationalen und hinderlichen Gedankenprozesse meist Vorrang, aber ab und an kam doch Vorfreude auf, die mich dann angetrieben hat. Und meine erste Auslandserfahrung hatte ja gezeigt, dass auch wenn es ‚schief geht‘, die Erfahrung als solche viel Potenzial für Freude und Lebenserfahrung mit sich bringt. Und wenn ich eins gelernt habe, dann dass es bei psychischen Erkrankungen darum geht, Optionen und Möglichkeiten zu kreieren, um aus den negativen Erfahrungen ausbrechen zu können.

Es ist also alles eingestielt und abgehakt und Corona ist voll im Gange und die Welt ist an sich schon ein deprimierender Ort. Beste Voraussetzungen also für das Abenteuer meines Lebens. Die ersten Wochen, muss ich zugeben, habe ich doch wieder meinem alten Muster entsprechend versucht, einfach gesund zu sein. Ich bin ja jetzt woanders und alles ist besser im Ausland. Ab jetzt nur noch gute Zeiten! Dafür habe ich (natürlich) recht schnell die Quittung bekommen, indem ich sehr erschöpft und ausgelaugt war und permanent innerlich angespannt. Natürlich durfte dann das Heimweh nach gewohnter Umgebung und weniger Aufregung nicht fehlen. Krank sein im Ausland ist ja doch sehr einsam.

Was es so unglaublich schwer macht im Ausland den eigenen Bedürfnissen nachzugehen – zumindest in meinem Fall – ist nicht nur die Tatsache, dass die Umgebung nichts von der eigenen Beschränktheit weiß und somit auch nicht darauf Rücksicht nehmen kann, sondern auch, dass ich ein hohes Bedürfnis habe teilzuhaben. Ich bin permanent in einem Dilemma zwischen sozial sein wollen und überfordert mit Menschen sein. Ich möchte nicht immer anders sein, sensibler sein, weniger ausdauernd sein, weniger konzentriert sein, … You name it. Ich laufe also immer wieder gegen meine eigens gebaute Wand, indem ich mich überfordere, um dann wieder viel Erholung zu brauchen, um mich dann irgendwann mal auf einem gesunden Level einzupendeln. Neben mehr „ja“-sagen zu neuen Erlebnissen und unbekannten Dingen, gehört in meinem Fall zu einem guten Leben auch mehr „nein“-sagen, wenn es mir nicht so gut geht oder ich nach 1 Stunde in Gemeinschaft schon wieder kaputt bin. Die Balance zwischen ja-nein-weniger ist ein Drahtseilakt aber muss ja gelernt werden.

Die allergrößte Challenge eines Auslandsaufenthaltes ist für mich: Trotz offensichtlicher Schwächen und Einschränkungen nicht anzunehmen, dass das Erlebnis weniger wert wäre als von ‘gesunden’ Menschen. Nur weil ich weniger reise, weniger feier, weniger trinke und weniger Berge besteige (und ich bin mir bewusst wie privilegiert das in Coronazeiten sowieso schon ist), heißt das ja nicht, dass die Erfahrung weniger wertvoll sein muss. Diese Selbstakzeptanz aufzubringen, um das mit psychischen Erkrankungen oft einhergehende geringe Selbstwertgefühl zu verbessern, ist meine ultimative Challenge. Allerdings habe ich das Gefühl, dass das Ausland da besonders gut für geeignet ist, da die äußeren Bestätigungen und Erleichterungen des Alltags weitestgehend wegfallen und man sich wirklich ausgiebig mit sich selbst beschäftigen muss.

Es gibt ein paar Dinge, auf die ich mir zuliebe unbedingt achten musste bevor ich mich entgültig entscheiden konnte: Zum Beispiel wusste ich, dass ich auf garkeinen Fall in einem Doppelzimmer (in Vor-Corona-Zeiten) wohnen könnte. Selbst eine WG war für mich keine gute Vorstellung. Wenn ich zuhause bin, brauche ich absolute Ruhe, also brauchte ich ein Einzimmerapartment. Auch war es mir wichtig nah am Stadtzentrum zu wohnen, da mich zu lange Fahrtwege davon abhalten würden am Leben ausreichend teilzunehmen. Auch meine Kurswahl richtete sich nach meiner Leistungsfähigkeit: Ich könnte keine acht Stunden am Stück Kursen folgen. Ich würde vor innerlicher Anspannung platzen. Meistens reicht mir max. einer am Tag plus Heimarbeit. Und so machte ich meinen Aufenthalt auch von so scheinbar trivialen Dingen abhängig. Zum Glück konnte ich aber alle Voraussetzungen für die grundsätzliche Erfüllung meiner Bedürfnisse erfüllen.

Weitere Zweifel und Ängste, die ich hatte waren: Kann meine medizinische Versorgung gewährleistet werden? Aber da Norwegen ja sowieso bekannt ist für sein gutes Gesundheitssystem, gehört das ja fast zum Sightseeing dazu. Gibt es notfalls psychologische Hilfe vor Ort? Kann ich notfalls telefonisch mit meiner deutschen Psychologin reden? Was ist, wenn ich selbst nicht merke, wie schlecht es mir eigentlich geht? Die Lösung hierfür war für mich einen engen Kontakt zu meinen Freunden in Deutschland zu halten. Etwas, das ich während meines ersten Abenteuers auch nicht getan habe. Des Weiteren habe ich hier ebenso drei Menschen, die ich in den letzten Monaten enger kennengelernt habe, eingeweiht. Das sichert mich ab und ermöglicht mir, mich nicht oder zumindest weniger verstellen zu müssen. Ich hatte noch tausend andere Ängste und Zweifel, aber das würde den Rahmen sprengen und die meisten sind eben eh nur das: Ängste und Zweifel. Nicht unbedingt begründet.

Wichtig ist mir, dass sich die Erzählungen von Auslandsaufenthalten nicht mehr nur auf die tollen Erlebnisse beschränken, wenn es auch schwierige Momente gab. Ich denke, es ist so wie im Leben sonst auch: Welches halbe Jahr oder Jahr ist schon durchgängig aufregend und toll? Warum nicht ehrlich und realistisch sein, damit man mit seinen Problemen nicht so alleine darsteht? Für mich stellen Authentizität und Realismus durchaus Schlüssel für mentale Gesundheit dar. Auch das Verständnis Nicht-Betroffener wird durch achtsameren Umgang und weniger Erwartungsdruck geschult.

Was ich also mit meinem Beitrag sagen möchte ist, dass unter den richtigen Bedingungen mit viel Vorkehrung, einem Plan B, viel Mut und Unterstützung ein Auslandsaufenthalt nicht nur gesunden Menschen vorbehalten ist. Ich persönlich bin sogar im Besitz eines Schwerbehindertenausweises, habe ihn aber für meine Bewerbung tatsächlich nicht benutzt, da ich individuell die Bedingungen für mich so schaffen konnte, dass es klappt.

Zwar ist in meinem Leben gerade scheinbar alles geprägt von Einschränkungen und Überlegungen und Anpassungen (von Corona erst gar nicht zu sprechen), aber was zählt ist, dass ich bei meiner Heimkehr ganz schön stolz werde sein können und gelernt haben werde, dass ich nicht nur krank, sondern auch mutig, abenteuerlustig, anpassungsfähig (zu einem gewissen Grad) und selbstbestimmt in meiner Lebensgestaltung sein kann. Das hätte ich vor einem halben Jahr noch nicht von mir behauptet und ich hoffe, dass wir noch viele weitere Geschichten sammeln können, die nicht nur von den erwartbaren Sonnenseiten des Auslandslebens berichten. 🙂

Schreibt dafür oder für Kritik einfach an liligoesmental@uni-bielefeld.de.