Wie es ist… wenn Ärzt*innen alles auf die Psyche schieben

Das Leben ist von einem Tag auf den nächsten anders; quasi mit einer Mahlzeit, obwohl es mir schon lange schleichend schlechter geht. Egal was ich esse, die Folge sind diverse Symptome, die den ganzen Körper sowie die Psyche betreffen. Ich fühle mich immer wieder, als würde ich mich von einer Grippe und Fieber erholen. Anfangs denke ich, das wird
schnell wieder – ein paar Tage vorsichtig essen, ausruhen, im Bett bleiben, wie bei einer Erkältung oder so. Aber es wird kaum besser. Erst als ich das mit der halbwegs ausgewogenen Ernährung aufgebe und fast nur noch Couscous und Hühnchen esse, komme ich überhaupt wieder auf die Beine. Sobald ich etwas anderes probiere, geht es mir wieder schlechter. Lange habe ich das auf meine Psyche geschoben, auf Stress oder auch aufs älter werden, aber es fühlt sich längst zu dramatisch an. Also auf zur Hausärztin.

Das war vor knapp 3 Jahren. Passiert ist bis vor kurzem wenig. Stattdessen habe ich erlebt, wie das Gesundheitssystem mit mysteriösen chronischen Beschwerden umgeht, wie es sie systematisch negiert und als ‘nur’ psychisch abstempelt, ohne genauer hinzusehen. Das wäre selbst in einem System problematisch, das sich nicht zugleich damit schwertut, Menschen mit psychischen Erkrankungen ernst zu nehmen, ihnen Empathie entgegenzubringen und sie nicht zu entmündigen. Ich möchte vorweg deutlich machen, dass mein Argument nicht ist, dass die Art, wie ich behandelt wurde, deshalb falsch ist, weil es (auch) physische Ursachen für meine Beschwerden gibt. Unabhängig davon, welchen
Anteil psychische und physische Ursachen – wenn man das überhaupt so trennen kann – am Leiden einer Person haben, es ist für alle schädlich, wenn Ärzt*innen vorschnell urteilen und Patient*innen nicht ernst nehmen.

Egal ob ich starke Stimmungsschwankungen als eins von 30 Symptomen mit angebe, egal ob die Ärzt*innen wissen, dass ich davor ein Jahr in Therapie war, egal ob ich beteure, dass es mir emotional vergleichsweise gut geht und meine Gefühlszustände meinen physischen Symptomen nicht vorausgehen, sondern abhängig von anderen Faktoren auftreten, die Reaktionen sind immer wieder Variationen derselben voreiligen Schlüsse: “Also ich denke, Sie können alles essen” – “Sie reagieren nur auf das Essen, weil Sie Angst davor haben, zu reagieren” – “Das sind zu viele Symptome, um nicht psychisch zu sein” – “Ach, Sie haben nichts Schlimmes, keine Sorge”. Ganz so, als sei nicht auch eine psychische Erkrankung, die derart das Leben einschränkt, ein Grund zur Sorge. Aber offenbar gelten psychische
Erkrankungen trotz der großen Risiken und des immensen Leidens bei vielen nach wie vor als nicht ‘richtig’ krank. Erkläre ich, warum meine Psyche aus meiner Sicht keine hinreichende Begründung für meinen Zustand ist, dass es mir nie in den Sinn gekommen wäre, Angst vor Keksen, Gurken oder Nudeln zu haben, bekomme ich bestenfalls mitleidige
Blicke und zunehmend genervte, teils widersprüchliche Antworten. Fast alle sagen mir mit absoluter Sicherheit nach einem zweiminütigen Gespräch und einem Bluttest, dass ich ‘gesund’ bin – also körperlich gesund. Wenn ich Bedenken äußere, wird mir gesagt, dass ich wohl zu viel lese. Bestenfalls gibt es eine Überweisung, mit der ich wieder Monate
auf den nächsten Termin warte. Ich soll “mal zur Ruhe kommen“ und „mich entspannen”, und so gehe ich monatelang gar nicht mehr zu Ärzt*innen, sondern warte ab und versuche mir einzureden, dass es tatsächlich besser wird. Auch beim nächsten Mal werde ich “gesund” wieder nach Hause geschickt, wo mein Studium mehr oder weniger pausiert,
ich meine Tutorenstelle nicht mehr ausüben kann und ich Hilfe im Haushalt brauche, weil mir beim Wäscheaufhängen manchmal die Kraft ausgeht. Trotz Symptomen, die meinen Alltag bestimmen, gelte ich offiziell als kerngesund, bis das Gegenteil bewiesen ist. Mein bloßes Wort genügt niemandem und Bürokratie wird zum Drahtseilakt, wenn es z.B. um
Fristverlängerungen geht, für die ich nachweisen muss, dass ich nicht gesund bin. Es ist schwierig, aber vor allem auch schmerzhaft, wenn die eigene Lebensrealität nicht anerkennt wird, denn damit leben tut man trotzdem.

Bei den Terminen habe ich selten das Gefühl, dass Ärzt*innen mir zuhören. Eine Ärztin warnt mich davor, meine Ernährung so sehr einzuschränken. Da es sich nicht um eine der Top 5 Nahrungsmittelunverträglichkeiten handelt, habe ich ja nix. Als ich – einige Monate später, einige Kilo leichter, und deutlich schwächer – eine andere Ärztin bitte,
ob sie mal nach Mängeln schauen kann, tut sie die Vorstellung mit einem “Ach Quatsch, Ihnen fehlt doch nix” ab. Andere Blutwerte, die ungewöhnlich sind, relativiert sie, das liege nur an falscher Ernährung, oder – nachdem ich sie erinnere, dass ich das, was sie nennt, nicht esse – den Genen. Rauche ich nicht vielleicht, oder trinke Alkohol? Nein.
Aber irgendwas muss ich doch machen, das ich lassen sollte, das es zu meiner Schuld macht. Sie schickt mich zur Neurologin, die mir Medikamente für eine Angststörung anbietet, oder vielleicht doch lieber was gegen Depressionen? Sie stimmt mir letztlich zu, dass zuerst andere Ursachen abgeklärt werden sollten. Das nächste Mal, als ich meiner
Hausärztin schildere, wie es mir geht, sehe ich auf ihrem Bildschirm, dass sie statt mir zuzuhören, den Bericht der Neurologin öffnet und liest, in dem nur steht, dass ich die Medikamente abgelehnt habe.

Ich merke, dass ich inzwischen ähnlich viel Angst vor Arztbesuchen und -telefonaten habe wie früher vor mündlichen Prüfungen, und ich breche danach regelmäßig in Tränen aus. Ich bekomme immer wieder das Gefühl, dass das Ausbleiben von Hilfe, das nicht ernst genommen werden, meine Schuld ist, weil ich mich nicht gut genug erkläre, weil ich nicht gut genug kommuniziere, wie es mir geht, weil ich einen schlechten Eindruck mache. Ich wirke anscheinend zu gesund – zu jung, zu dünn, zu gute Blutwerte – um “wirklich” krank zu sein, aber gleichzeitig zu labil, um nicht psychisch krank zu sein. Dass ich weiblich gelesen werde, hilft vermutlich auch nicht – Studien zeigen, dass Frauen in medizinischen Kontexten weniger ernst genommen werden – und mir wird schmerzlich bewusst, dass auch der Buzz Cut, den ich anfangs noch habe, von vielen als Zeichen eines mentalen Zusammenbruchs interpretiert wird. Und so mache ich mir Gedanken vor jedem Termin: Wie genau beschreibe ich meine Symptome, mit welchen Formulierungen? Wie fülle ich das kurze Fenster, in dem mir zugehört wird, am besten? Soll ich ungewöhnliche Beobachtungen, die ich mir selbst nicht erklären kann, auslassen aus Angst, dass man mir dann wieder nicht glaubt, oder wären das wichtige Hinweise? Wie soll ich mich verhalten – brav nicken oder versuchen mein Gegenüber zu überzeugen? Was soll ich anziehen? Ich bin stark verunsichert, nachdem mich dieselbe Ärztin, die mir nach einem abschätzenden Blick gesagt hat, dass ich “ja offenbar genug esse”, beim nächsten Mal – 2kg schwerer – warnt, dass ich “ja schon fast magersüchtig aussehe”. Ich will erreichen, dass mein Anblick aussagt, dass es mir schlecht geht, aber ich gleichzeitig im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten bin und beurteilen kann, wie es mir geht. Irgendwann wird mir klar, dass das reichlich viel verlangt ist von einem T-Shirt. Und ja eigentlich auch von mir. Letztlich hilft das auch alles nichts. Wenn ich einen guten Tag erwische und mich zusammenreiße, ist leicht zu glauben, dass meine Situation nicht so schlimm oder dringlich ist. Geht es mir an dem Tag dagegen schlecht, wirke ich gar verzweifelt, sehen Ärzt*innen das als Zeichen, dass es offenbar wirklich psychisch ist. Mein Zittern und meine Tränen verraten ihnen, was ich in ihren Augen bloß nicht wahrhaben will: dass alle gemessenen, fotografierten und beschriebenen physischen Symptome psychischen Ursprungs sind.

Als mir klar wird, dass ich inzwischen vor wenig mehr Angst habe als mit meiner Hausärztin zu reden, gebe ich auf und wechsle – nochmal – zu einem anderen Hausarzt, der mir zu meiner Erleichterung sofort bestätigt, dass viele Ärzt*innen ein vereinfachtes, eingeschränktes und einseitiges Verständnis von Psychosomatik und den Wechselwirkungen zwischen den vermeintlich separaten Einheiten Körper und Psyche haben. So ist beispielsweise niemandem in den Sinn gekommen, dass meine körperlichen Symptome verständlicherweise Angst und Trauer auslösen – Trauer über all das, was ich nicht mehr essen und machen kann, Ungewissheit, ob ich das je wieder können werde, und Angst, ob der Rest meines Lebens so aussieht oder ob das gerade nur der Beginn von noch Schlimmerem ist; stattdessen werden meine Emotionen pathologisiert und als einzig mögliche Ursache für mein Krankheitsbild gesehen. Auch die Auffassungen von Angst oder Depression wirken oft sehr eingeschränkt. Im Krankenhaus sollten sie mich mal durchchecken, damit ich “beruhigt sein kann, keine Borreliose zu haben” – was ich nie dachte – so als sei längst sichergestellt, dass ich nichts Physisches habe und es mich nur noch davon zu überzeugen gilt. Auch einer Person, die hauptsächlich an der Angst leidet, krank zu sein, hätte das wohl kaum geholfen, und auch an eine Anlaufstelle für Psychosomatik bin ich da nie verwiesen worden; ich sollte mich einfach mal ausruhen, vielleicht mal zur Kur fahren? Wenn ich schildere, dass ich mich danach sehne, rauszugehen, ich total motiviert spazieren gehe, mich danach aber manchmal Stunden davon erholen muss, hören die meisten nur, dass ich keine Energie habe, und schlussfolgern eine Depression.

Mit am meisten frustriert und belastet mich, dass meine Expertise als Patientin komplett missachtet wird. Dass ich meine Symptome direkt erlebe, weil ich nun mal in meinem Körper stecke, wird immer als Argument für mangelnde Objektivität gesehen, nie als wertvolle Informationsquelle. Die meisten Ärzt*innen scheinen absolut überzeugt davon, dass ich nicht beurteilen kann, wie es mir geht, physisch oder psychisch. Dass ich schon viele Jahre mit Angst und ihren gelegentlich somatischen Folgen lebe, dass es mir emotional viel besser geht als früher, wenn es nicht gerade einen speziellen Anlass gibt, spielt in ihren Augen keine Rolle. Natürlich habe ich Erwartungen und Ängste, wenn ich
Lebensmittel ausprobiere, ich kann das ja kaum als Doppelblindstudie durchführen, aber ich werde oft genug ehrlich überrascht, sowohl negativ als auch positiv. Ich schreibe mir seit fast 3 Jahren auf, was ich esse und wie es mir geht, und kann damit Symptome ziemlich verlässlich bestimmten Phasen und Faktoren zuordnen; und natürlich recherchiere ich selbst manchmal im Internet, woran es liegen könnte (vorsichtig, mit Bedacht und unter Prüfung der Quellen). Das mache ich, weil ich mich von Ärzt*innen völlig allein gelassen gefühlt habe mit meiner Erkrankung und ich im Angesicht ausbleibender oder widersprüchlicher Aussagen einfach nicht wusste, was ich sonst machen soll. Gleichzeitig habe ich immer wieder zu hören bekommen, ich solle mich bloß nicht informieren und schon gar nichts selbst unternehmen. Ich habe das Gefühl, die komplette Verantwortung für meine Gesundheit liegt bei mir, während ich gleichzeitig weder die nötige Kompetenz noch die Autorität habe, handeln zu können; ich soll ja „nicht so viel lesen“ und schon gar nicht eigenmächtig irgendwas unternehmen, und ohne Überweisungen oder finanzielle Mittel Fachärzte oder Kliniken aufzusuchen, lässt das System nicht zu, was diejenigen, die solche Überweisungen ausstellen können, zu Hürden macht. Ich fühle mich oft schuldig oder verrückt, fehlgeleitet wie eine Verschwörungstheoretikerin, wenn ich meine Listen führe und versuche, Zusammenhänge zu erkennen. Es ist aber das Einzige, das mir bisher geholfen hat bei meiner Suche nach Essbarem, und es hat, neben ein paar ‚kleineren‘ Diagnosen, letztlich zum Nachweis einer Autoimmunerkrankung meiner Schilddrüse geführt. Das war 2 Jahre nachdem ich einer Ärztin zum 1. Mal gesagt hatte, dass ich glaube das zu haben. In der Zeit habe ich oft gehört, dass die Werte und der Ultraschall nicht schlecht genug aussehen, „kommen Sie in einem Jahr wieder“, bis es dann während eines Schubes mehr als eindeutig war. Und auch jetzt noch werde ich nicht so ernst genommen wie ich es mir wünschen würde, sodass ich längst nicht so erleichtert bin wie ich es mir 3 Jahre lang ausgemalt hatte.

Die Vorstellung, dass die Ursache körperlicher Beschwerden rein psychisch sein könnte, ist stigmatisiert und schambehaftet wie psychische Erkrankungen an sich. Natürlich stehen psychisches und physisches Befinden in enger Wechselbeziehung, aber wenn Ärzt*innen physische Symptome gar nicht oder rein über eine seelische Heilung behandeln wollen, ohne Erfolg, verstärkt das nur das Gefühl, schuld zu sein am eigenen Leid. Ich habe oft den Eindruck, als müsse ich erst ein Mindestmaß an psychischer Gesundheit erreichen um zu beweisen, dass es daran nicht lag, um mir ärztliche Hilfe zu verdienen. Ich frage mich jedes Mal, wenn ich Angst habe oder traurig bin, inwieweit das nun Ausdruck einer Angststörung oder Depression ist, oder ob das doch völlig normale Reaktionen auf meine Lebensumstände sind. Ich höre in diesem Text meine Versuche, andere und mich selbst davon zu überzeugen, dass es tatsächlich nicht ‘nur‘ psychisch ist. Aber egal wie viel emotionale Arbeit ich investiere, um meine eigene Scham in Bezug auf meine Erkrankung aufzuarbeiten und meine Selbstzweifel, ob ich meiner Wahrnehmung trauen kann oder
meine Therapeutin und ich die Therapie zu früh beendet haben, egal wie sicher ich mir bin, beurteilt wird es von Ärzt*innen, die sich mit psychischen Erkrankungen nicht auskennen und die nicht in der Position sind, mich beurteilen zu können, die mich mit vermeintlich wissenden Fragen nach Rauchen, Alkoholkonsum, falscher Ernährung, zu wenig Bewegung oder pathologisierbaren Gemütszuständen unterbrechen, welche mir suggerieren, dass meine Erkrankung an meinem Fehlverhalten liegt. Wenn ich versuche, auszureden, mich zu erklären oder hinterfrage, was sie mir da sagen, werde ich belächelt und mir wird das Gefühl gegeben, eine schlechte Patientin zu sein, nicht genug Vertrauen in die Autorität dieser Ärzt*innen zu haben, mich gegen meine eigene Genesung zu wehren.

Ich habe das große Glück, Menschen in meinem Leben zu haben, die mich und meine Situation so annehmen, wie sie ist und nicht wie sie sein sollte, die mir helfen und mir immer wieder bestätigen, dass es nicht an mir liegt, dass das Ausbleiben medizinischer Hilfe nicht meine Schuld ist. Und glücklicherweise – auch wenn es mir das Herz bricht – habe ich Freundinnen, die selbst mit schweren Erkrankungen und starken Schmerzen nach Hause geschickt wurden und die wissen, wie es ist, wenn einem erst geglaubt wird, wenn es eventuell schon zu spät ist. Sonst ist es oft schwierig mit Menschen darüber zu sprechen, die das nicht am eigenen Leib erfahren mussten. Für viele ist es unvorstellbar, dass man mit Symptomen, die das Leben so stark einschränken, zum*r Ärzt*in geht und kaum Antworten oder Hilfe erhält, und ich bekomme ungefragt viele wohl gut gemeinte aber wenig hilfreiche Ratschläge, was ich tun soll. Wenn es um gemeinsame Pläne geht, sagen andere mir oft “wenn’s dir wieder besser geht”. Sobald. So als wäre es unumstößlich, undenkbar, dass es nicht so kommt. Für mich ist diese kompromisslose Positivität schwierig, da ich nicht alles auf unbestimmte Zeit verschieben möchte, nicht alleine warten möchte, bis ich wieder teilnehmen kann am Leben. Viele möchten nicht wahrhaben, dass es vielleicht nie wieder besser wird, dass einem so was überhaupt passieren kann, aber für einige Menschen ist das Alltag. Wir machen bei denselben Ärzt*innen, die anderen Patient*innen kompetent
und empathisch helfen, vollkommen andere Erfahrungen, was auch die Suche nach geeigneten Ärzt*innen erschwert. Zum unterschiedlichen Erleben der medizinischen Infrastruktur kommt hinzu, dass sie paradoxerweise für gesunde
Menschen designt wurde. Schlechte telefonische Erreichbarkeit, monatelange Wartezeiten auf Termine und stundenlange Wartezeiten vor Ort, bei denen man nochmal rausgeschickt wird, bis ein Sitzplatz im Wartebereich frei ist, sind für alle nervig und eine Belastung, aber mit vielen psychischen oder anderen chronischen Erkrankungen sind dies enorme Hürden, die das Wahrnehmen von nötigen Terminen erschweren oder gar verhindern.

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