Wie es ist… mit Depersonalisation (DP) und Derealisation (DR) zu leben

Wie erzählt man Menschen, dass man wahrnehmungsgestört ist?

Ich würde vermuten, dass die meisten von DP und DR noch nichts gehört haben. Dennoch kennt diese Symptome fast jede*r, die mal eine lange Nacht hatten, völlig übermüdet waren oder einen Schock erlebt haben. Depersonalisation äußert sich darin, dass man sich von außen betrachtet – so, als ob man nicht Teil des Geschehens wäre. In Filmen wird dieses Element oft bei Unfällen gebraucht. Derealisation äußert sich darin, dass man sich selbst und seine Umgebung nicht als real empfindet – alles wirkt weit weg, nicht in 3D, sondern eher wie ein Gemälde, das man sich anschaut.

Ich lebe seit ca. 11 Jahren mit der Depersonalisation- und Derealisationsstörung. Diagnostiziert wurde sie aber erst vor 5 Jahren. Das ist eine sehr typische Geschichte. Genauso typisch ist, dass ich meine behandelnde Ärztin selbst darauf hinweisen musste. Dies liegt zum einen daran, dass bei vielen Erkrankungen DP und DR Begleitsymptome sind. Es werden also primär die anderen Krankheiten (z.B. Depression oder Angststörung) behandelt und davon ausgegangen, dass die DP/DR einfach so verschwindet. Zum anderen, dass diese Symptomatik als eigenständige Krankheit bei Ärzt*innen viel zu unbekannt ist. Dazu ist es für Betroffene noch schwer in Worte zu fassen. Gerade im psychiatrischen Kontext hatte ich Angst für völlig verrückt erklärt zu werden. Trotzdem möchte ich gerne versuchen es in Worte zu fassen, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen und den Menschen Mut zu machen, die sich vielleicht darin wiedererkennen.

Die Depersonalisation ist bei mir immer da. Die Derealisation auch. Aber sie schwanken. Das Gefühl hatte ich die ersten Jahre nicht – vor allem weil Angst und Unsicherheit vorherrschten. Bei allem was ich tat, dachte ich immer nur: „Ich fühle nicht genug.“ Oder: „Irgendwie bin ich nicht ich selbst. Wer bin ich überhaupt?“ Im Spiegel erkannte ich mich nicht mehr richtig. Die Erkenntnis war ein ziemlicher Schock. Wenn ich Erinnerungen versuchte abzurufen, dann war es eine andere Person, die diese Dinge erlebt hatte. Ich konnte nichts mit mir verknüpfen. Da war ein Körper, und da waren Hände, die etwas taten, aber die gehörten nicht zu mir. Mich gab es gefühlt gar nicht. Manchmal stand ich an der Ampel und fragte mich, ob ich mir nur einbilde, dass die Ampel rot sei, weil sie so irreal erschien. Auch meine Heimatstadt fühlt sich bis heute nicht vertraut an, obwohl ich dort so lange gelebt habe. Selbst Menschen, die ich ewig kenne, können sich fremd für mich anfühlen. Das hört sich irre an und ja, ich hatte manchmal fürchterliche Angst völlig verrückt zu werden – oder schon zu sein. Oder noch schlimmer: Die Kontrolle über mich zu verlieren. Aber ein wichtiges Merkmal von DP/DR im Vergleich zur Psychose beispielsweise ist, dass man zu jedem Zeitpunkt noch reflektieren kann, dass gerade etwas nicht stimmt. So richtig irrational oder dem Verstand abtrünnig ist man also nie mit DP/DR, auch wenn es sich so anfühlt. Das kann erstmal Sicherheit geben, weil man es selbst nachprüfen kann. Trotzdem ist die Angst groß mit solchen Symptomen zu Ärzt*innen zu gehen.

Die Depersonalisation fühlt sich für mich schwer und leicht gleichzeitig an. Schwer, weil es ein schweres Gefühl erzeugt. Da ist kein gefühlter Körper (je nach Nuance mehr oder weniger) aber die Traurigkeit und Schwere darin kann ich trotzdem wahrnehmen. Leicht, weil ich meinen Körper so wenig spüre und ich mich dadurch häufig so fühle als würde ich schweben. Als ich noch gar nicht wusste was mit mir los war, hat mir das wahnsinnige Angst gemacht. Ich habe mich sehr unter Druck gesetzt ein Gefühl für meinen Körper zu erlangen, weil ich den Sinn hinter den Symptomen nicht verstanden habe (dazu später mehr). Ich habe mich also immer mehr an den Rand der Erschöpfung gedrängt, weil ich meine Grenzen natürlich auch nicht mehr wahrnehmen konnte. Gleichzeitig erhob ich aber den Anspruch an mich selbst optimal zu funktionieren – so, als wäre ich gesund. Dies führte letztendlich dazu, dass die Symptome immer stärker wurden.

Die Derealisation ist für mich präsenter als die DP. Sie fühlt sich für mich so an, als wäre es permanent nebelig. Farben sind nicht so intensiv, die Welt wirkt fast immer „flach“. Ich kann mich durch die DP in der Szene nicht verorten. Ich schaue nur aus mir heraus, aber ich bin nicht Teil des Bildes. Ich glaube fast, das kann man nur verstehen, wenn man DP/DR mal länger erlebt hat. Ansonsten ist dieses Gefühl für seine Umwelt so selbstverständlich wie atmen. Oft erscheint mir die Welt auch zu hell oder zu dunkel oder zu schnell oder langsamer als sie wirklich ist. Diese Zweifel an meiner eigenen Wahrnehmung haben mich so manches Mal selbst überfordert. „Woher weiß ich denn nun, dass ich meiner Wahrnehmung vertrauen kann? Nehme nur ich das so wahr, oder sieht das für andere Menschen auch so aus?“ Das Resultat waren riesige Selbstzweifel nicht nur was meine Wahrnehmung betrifft. Da war lange das Gefühl völlig aus der Welt gefallen zu sein. Ich ging eine Zeit lang davon aus, dass meine Meinung, Wahrnehmung und Sicht der Welt nichts wert sei, weil sie ja verzerrt beziehungsweise anders ist. Ich ging also kategorisch davon aus, dass alle anderen immer Recht haben, weil ich mir und meinem Kopf nicht vertrauen konnte. Ein typischer Gedanke dieser Zeit war: „Ich habe ja eh keine Ahnung vom Leben.“ Das war ein fundamentaler Fehler aber ebenfalls typisch für dieses Krankheitsbild. Wie ungesund das auf Dauer ist und wie sehr man vor seinen eigenen Augen damit verschwindet ist vielleicht auch für Nicht-Betroffene vorstellbar.

Ich wünsche diese Problematik niemandem. Es ist ein permanenter Albtraum, der manchmal verblasst, aber meist den ganzen Tag nachwirkt. Auch die beste medizinische Erklärung für diesen Zustand nimmt das Leid nur bedingt. Eine Erklärung macht es aber sinnvoll und verständlich und hat es mir ermöglicht, es mal besser und mal schlechter als einen Teil von mir zu sehen, der erstmal mit Geduld und Fürsorge akzeptiert werden muss. Einen Teil meiner selbst konnte ich durch die Diagnose und die damit einhergehende Behandlung also zurückgewinnen. Denn auch wenn ich irgendwie „weg“ bin – losgelöst von mir selbst – dann bringt mir das Wissen auf kognitiver Ebene doch, dass mir das nicht einfach passiert, sondern dass ich es bin – mein Kopf – der das veranstaltet.

Was soll man also tun, wenn man Hilfe benötigt? Ich kann empfehlen eine Therapie zu beginnen. Auch wenn nur wenige Therapeut*innen darauf spezialisiert sind, können auch diese helfe, wenn sie gewillt sind sich einzulesen. Ansonsten ist Eigenrecherche ein großer Baustein für mich gewesen um mich zu vergewissern, dass es auch anderen Menschen so geht wie mir. Eine grundlegende Akzeptanz für das ganze konnte ich aber erst in Mainz aufbauen. Dort in der Uniklinik gibt es eine der sehr wenigen auf die Depersonalisations- und Derealisationsstörung spezialisierten Stationen. Hier traf ich das erste (und einzige) Mal Menschen, bei denen ich genau wusste, dass sie wirklich verstehen was ich sage, wenn ich meine Symptome nannte, denn dort ging es fast allen so. Wenn ich also zu meiner Freundin aus dieser Zeit heute sage: „Ich habe heute beim Spazierengehen einen Baum so richtig gesehen. Die Blätterbewegungen, die Dreidimensionalität und der Himmel im Hintergrund waren für 5 Sekunden real“, dann hört sich das für sie nicht verrückt an, sondern sie freut sich von Herzen für mich. Und ich fühle mich aufgehoben und verstanden. Das ist viel Wert. Generell muss man schon ein bisschen abwägen, wem man davon erzählen möchte. Wie erzählt man Menschen schon, dass man wahrnehmungsgestört ist? Die Befürchtung, dass man dann nicht mehr ernstgenommen oder dahingehend verletzt wird, weil diese Information gegen einen verwendet wird, ist da. Aber damit kann ich inzwischen leben, falls das je eintreten sollte. Bisher haben die meisten Menschen eher mit Neugierde und Interesse reagiert.

In meinem Alltag gibt es immer wieder Situationen, die ich inzwischen mit Humor nehmen kann: Beim geführten Meditieren beispielsweise (wichtiges Mittel im Kampf gegen die DP/DR) höre ich immer wieder den Satz: „Betrachten Sie sich jetzt wie von außen.“ „Mach ich schon!“ ist dann meine innere Gegenreaktion. Insgesamt löst es aber zugegebener Maße mehr Angst und Unsicherheit als Humor aus. Autofahren ist schwieriger geworden beispielsweise. Oder auch Fahrradfahren. Alles was sich schnell bewegt und ein Risiko für andere darstellen kann ist mit Angst besetzt: Immerhin kann ich meiner Wahrnehmung doch eigentlich nicht trauen, oder? Ich setze mich dem dennoch so häufig wie möglich aus. Letztendlich funktionieren meine Reflexe und mein Körper wunderbar, nur was bei mir im Kopf ankommt ist verzerrt. Würde ich also immer auf die Unsicherheit hören, dann könnte ich nur noch mit Angst durch die Welt laufen und würde alles noch schlimmer machen. Ich würde mir selbst die Chance nehmen Vertrauen zu mir selbst aufzubauen. Was es aber besser macht sind genau die Dinge, die so sehr ablenken, dass man sich nicht die ganze Zeit selbst beobachtet. Intraversion und Fragen wie: „Wie sehe ich gerade die Welt? Wie stark ist die DP gerade?“ verstärken die DP/DR ungemein.

Wie das bei psychischen Erkrankungen so ist, ist permanente Arbeit für ein zufriedeneres Leben notwendig. Fast nichts ist einfach da, sondern muss sich erarbeitet werden. Für mich zu Hause kann ich das noch ganz gut akzeptieren, wenn es aber in die Uni geht und ganz selbstverständlich der Vergleich mit anderen Studierenden stattfindet, schneide ich innerlich natürlich miserabel ab. Sobald ich mich mit Menschen umgebe (die nichts von meinem Innenleben kennen) fühle ich mich schnell abgehängt. Da sind meist meine Defizite im Vordergrund; es ist mir zu laut, zu schnell, zu chaotisch, zu anstrengend. Mein Kopf kommt oft nicht mit vor lauter Input. Man muss sich ja vorstellen, dass ich parallel noch eine andere Welt im Kopf erschaffe. Ich kann mir gar nicht vorstellen wie viel Energie ich ohne die DP/DR haben müsste. Aber auch hier gilt es aktuell regelmäßig gegenzusteuern, genug Erholungsphasen einzubauen, und immer wieder Verständnis und Geduld für meinen merkwürdigen Kopf aufzubringen.

Besonders wichtig ist mir noch zu sagen, dass die Symptome unbedingt vom Innen ins Außen getragen werden sollten. Teilt euch der Welt mit! Macht das nicht mit euch selbst aus. Ja, manche mögen euch für irre halten, die meisten werden aber Interesse und Mitgefühl zeigen – besonders diejenigen, denen ihr wichtig seid. Andere Menschen – im Gegensatz zu uns selbst – sehen nämlich ein Gesamtbild all unserer Stärken und Schwächen und können uns dadurch öfter mal realistischer einschätzen als wir uns selbst wahrnehmen. Und gerade jetzt, wenn man sich selbst und die Welt nicht durch Interaktion realer machen kann, wenn man auf sein schwer identifizierbares Selbst zurückgeworfen wird, ist es umso wichtiger Menschen davon zu erzählen. Andere Menschen sind für von DP/DR Betroffene oft Problem und Lösung gleichzeitig. Sie können überfordern, aber Reaktionen sind lebensnotwendig um nicht verloren zu gehen.

Corona hat leider den zerstörenden Effekt, dass die Spiegelung von außen, die notwendig ist, um sich selbst besser wahrzunehmen und nicht im eigenen Kopf-Universum verloren zu gehen, gerade kaum als Hilfsmittel zur Verfügung steht. Computerbildschirme sind auch nur bedingt hilfreich dabei, die Welt weniger als Gemälde zu sehen. Dreidimensional ist da von Natur aus nichts.

Letztendlich finde ich es unabdingbar, dass ein Bewusstsein dafür entsteht, dass viele Menschen so desorientiert durch die Welt laufen wie ich – auf viele verschiedene Arten. Man sieht es den Menschen nicht an, aber es gibt sie zuhauf. Und diese Menschen studieren trotzdem und sind trotz allem Teil dieses Unikonstrukts und unserer Gesellschaft. Das ist so manches Mal eine größere Leistung als gesund zu studieren oder zu arbeiten und verdient Anerkennung und Offenheit. Ein grundlegend menschlicher und verständnisvoller Umgang miteinander kann schon viel bewirken.

Hilfe-Tipps:

  • Psychotherapie
  • Eigenrecherche Internet
  • Online-Foren
  • Uniklinik Mainz (unimedizin-mainz.de/psychosomatik/patienten/stationaere-behandlung.html)
  • Das Buch: Depersonalisation und Derealisation Die Entfremdung überwinden von Matthias Michal (ISBN 978-3-17-022170-3)
  • Austausch mit anderen Betroffenen!

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